„Gleichwohl wird man fragen dürfen, ob PISA tatsächlich auf die Bildungsqualität zielt oder auf etwas ganz Anderes. Bei all den spektakulär erscheinenden Ergebnissen sollte man sich vor Augen führen, was PISA tatsächlich bringt (vgl. Deutsches Pisa-Konsortium 2001, 2002). Die Antwort ist knapp: Nicht viel Neues! Seit der These von der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit durch die Schule von Pierre Bourdieu wissen wir von der fortwährenden Zementierung der Bildungsungleichheit im Schulwesen, ohne dass die Bildungspolitik darauf wirklich reagiert hätte. Und dem aufmerksamen Beobachter, der die deutschen und ausländischen Schullandschaften durchquert, werden auch Leistungsunterschiede in den von PISA getesteten Grundkompetenzen Lesekompetenz, mathematische Grundbildung und naturwissenschaftliche Grundbildung nicht entgangen sein. PISAs Verdienst ist es, diese, aber auch nur diese Dimensionen differenziert untersucht und beschrieben zu haben. Aber was hat das mit der Schule im Ganzen zu tun? PISA konzentriert sich auf ein bestimmtes Segment der Schulwirklichkeit, genauer noch: auf ein bestimmtes Segment des schulischen Lernens. PISA legt gewissermaßen Schnitte an das tägliche unterrichtliche Lerngeschehen bzw. an dessen Ergebnisse an und präpariert aus der Komplexität der schulischen Erscheinungen einen bescheidenen Kern heraus. PISA gibt also mitnichten Auskunft über die Qualität des deutschen Schulsystems, noch erfasst es nur annähernd etwas von dem, was wir seit der Humboldtschen Tradition Bildung nennen.
Die angesprochenen Grundkompetenzen haben zunächst einmal noch nichts mit Bildung zu tun. Sie sind das Ergebnis eines kognitiven Verarbeitungsprozesses, von dem PISA nicht einmal sagen kann, wie er verlaufen ist oder methodisch am besten zu fördern wäre. Es handelt sich auch nicht um Handlungskompetenzen, denn die Schüler sind nicht in realen Handlungssituationen beobachtet worden. Dokumentiert hat PISA allenfalls das, was die Schüler mit dem Stift zu Papier gebracht haben, also eine weitestgehend abstrahierte Handlung. Ob der Wissenstransfer in die reale Situation gelingt, wissen wir nicht. Bildung meint dagegen etwas Anderes. Ihr geht es darum, den ganzen Menschen in ein konstruktives Verhältnis zu sich, zu seinen Mitmenschen und der Dingwelt zu stellen. Alle natürlichen Kräfte des Menschen, seine Begabungen, Neigungen und Interessen sollen zur harmonischen Entfaltung gebracht werden. Das Kreative, Schöpferische, Soziale, Leibliche und Geistige gehören zusammen und machen in ihren Wechselwirkungen erst den allseitig gebildeten, den ganzen Menschen aus. Aber danach fragt PISA nicht. Die Studie fragt nicht nach Hilfsbereitschaft, solidarischem Handeln und Mündigkeit, nicht nach dem vertieften Nachdenken, dem Ringen um Erkenntnis, den Umwegen eines probierenden, entdeckenden und praktischen Lernens, es fragt ebenso wenig nach den Fächern Latein und Französisch wie nach Religionslehre, Werken/Textiles Gestalten, Kunst und Musik oder dem hauswirtschaftlich-sozialen Bereich. Wer und was legitimiert solche Schnitte durch den Fächerkanon? Das Erlernen von Grundkompetenzen, wie sie uns PISA zeigt, hat erst dann etwas mit Bildung zu tun, wenn dieses Lernen integriert ist in das Streben nach Lebenstüchtigkeit und Weltverstehen. Erst dann ist Lernen funktional für den Bildungserwerb und für das Wachstum des gesamten Menschen.“
Quelle: Wolfgang Schönig, Lernen und Bildung in Zeiten internationaler Schulleistungsvergleiche. Überlegungen zur Rehabilitation des Sinnlichen im Lernen